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Über Grenzen hinweg: KAS-Stipendiaten zu Besuch in Bosnien-Herzegowina

Deutsche und bosnische Teilnehmer beschäftigten sich vom 09. bis 16. September 2019 in Sarajevo mit dem Thema „Der Westbalkan zwischen Ethnonationalismus und europäischer Beitrittsperspektive“

 „Hier gibt es WLAN!“, hörte man gelegentlich begeisterte Rufe – daraufhin ein unruhiges Rascheln; Reißverschlüsse von Rucksäcken wurden geöffnet, Smartphones aus den Jackentaschen gezückt. Nach Ankunft in Bosnien und Herzegowina war schnell zu spüren, dass wir nicht mehr auf EU-Boden standen: Kostenfreies Datenroaming blieb aus und Euro-Geld wechselten wir gegen Konvertible Mark. Ob sich dies in Zukunft ändern könnte, war eine zentrale Frage des gemeinsamen Seminars.

 

Wir – 19 Stipendiaten der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) – reisten im September unter Seminarleitung von Dr. Kerim Kudo für acht Tage von Deutschland nach Sarajevo. Zusammen mit bosnischen Teilnehmern erkundeten wir die Region von der Hauptstadt aus in alle Himmelsrichtungen. Über das kulturelle Erlebnis hinaus wollten wir ein Verständnis für die politische Situation aufbauen – warum der EU-Beitritt auf sich warten lässt, und wo der ethnische Nationalismus im Land seine Wurzeln hat.

 

 

Ziel: der Weg in die Europäische Union?

 

Zumindest geografisch wirkt die EU-Zugehörigkeit plausibel, wirft man einen Blick auf die Europa-Karte. Von der nordöstlichen Grenze bis zur Südspitze wird Bosnien-Herzegowina fast in Form einer Mondsichel von Kroatien umschlossen. Der direkte Nachbar wurde 2013 zum 28. Mitglied der Europäischen Union. Weitere Westbalkanstaaten haben die Aufnahme in Aussicht: Verhandlungen mit Montenegro und Serbien laufen bereits; Albanien und Nordmazedonien sind ebenfalls Kandidaten. 

 

Bosnien und Herzegowina hingegen verweilt auf dem Status „potenzieller Beitrittskandidat“. Dabei strebt das Land die EU-Mitgliedschaft seit 1998 an, wie wir von Radmila Urta von der Direktion für Europäische Integration (DEI) erfuhren. Im Ministerrat in Sarajevo sprachen wir mit ihr über den Beitrittsprozess und die notwendigen Voraussetzungen – Kriterien wie das Einhalten von Menschenrechten, Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Gleichberechtigung sind noch nicht vollständig erfüllt. 

 

Weitere Probleme verlangsamen den Weg in die EU. Transparency International bewertet das Korruptionsniveau in Bosnien-Herzegowina hoch, und auch eine Regierung fehlt dem Land. Seit den vergangenen Wahlen im Oktober 2018 finden Bosniaken, Kroaten und Serben keine gemeinsame Linie. Urta sieht hierin die Herausforderung: Teil der EU zu werden, ohne das System mit den drei Ethnien aufgeben zu müssen. Deren Konflikte spielen jedoch nicht nur im politischen Kontext eine Rolle.

 

 

Ethnien in Politik und Gesellschaft

 

Es sind die drei großen Konfessionen, die stark in Verbindung mit den politischen Strukturen stünden, erklärt Vedran Golijanin von der Orthodoxen Theologischen Fakultät der Universität Ost-Sarajevo. Beim Islam gebe es den Bezug zum Osmanischen Reich; bei der römisch-katholischen Kirche die Verbindung zur österreichisch-ungarischen Monarchie, später auch mit dem Unabhängigen Staat Kroatien. Die Orthodoxie sei im Königreich Jugoslawien innerhalb der Machtstrukturen etabliert worden. 

 

Den Krieg gegen Bosnien-Herzegowina, der von 1992 bis 1995 geführt wurde, konnten viele von uns deutschen Teilnehmern erst beim Besuch der Gedenkstätte und des Genozid-Denkmals in Potočari bei Srebrenica erahnen. Im Juli 1995 wurden dort über 8.000 bosnischer Muslime systematisch durch bosnisch-serbische Polizei- und Armeeeinheiten ermordet. Dieses Ereignis wurde von mehreren internationalen Gerichten unzweideutig als Völkermord eingestuft.

 

Selbst auf den Straßen begegnet man noch Spuren des Kriegs in Form von Granateneinschlägen, deren Abdrücke mit rotem Harz aufgefüllt wurden. Die „Rosen von Sarajevo“ sollen daran erinnern, dass an diesen Stellen viele Zivilisten getötet wurden. Sie sollen auch die Erinnerung an die längste Belagerung einer Stadt im 20. Jahrhundert wachhalten. 

 

 

Eine Brücke verbindet eine geteilte Stadt

 

Mostar ist der Ort, der in Bosnien und Herzegowina die meisten Sonnenstunden zählt. Meist gewährten uns dort nur die engen Marktgassen etwas Schatten. Über Kopfstein-gepflasterten Grund führen diese vorbei an bestickten Brieftaschen, verkupferten Zuckerdöschen und orientalischer Kleinkunst zum namensgebenden Wahrzeichen der Stadt: Die Stari most („Alte Brücke“) trennt den bosniakisch geprägten Osten Mostars vom kroatischen West-Stadtteil; 1993 wurde sie im Krieg zerstört.

 

Heutzutage kämpft man sich auf der Stari most durch eine Touristenscharr, die am höchsten Punkt der Brücke ungeduldig auf das Spektakel der „Brückenspringer“ wartet. Der Name ist Programm: Junge Männer in knappen Badehosen sammeln Geld ein, um sich anschließend aus 27 Metern Höhe in das kalte Flusswasser der Neretva zu stürzen. Vom Ufer aus sind die Kriegswunden der Brücke im teils vergilbten Steinwerk sichtbar. Beim Wiederaufbau wurden auch einige der Trümmer verwendet.

 

Das Gespräch mit Aktivistin Amna Popovac zeigte: Die historisch durch ihre Ethnien gespaltene Stadt spiegelt die politischen Probleme des Landes im Kleinen wider. Kommunalwahlen gab es seit elf Jahren nicht mehr, und ein jährliches Budget von umgerechnet circa 30 Millionen Euro würde von den beiden Parteien unter den Tisch gekehrt. Da weder ein Stadtrat noch Auskunftspflichten zu den Ausgaben existierten, wären nach zehn Jahren folglich 300 Millionen Euro wie ins Nichts verschwunden.

 

Neben einer nicht funktionierenden öffentlichen Verwaltung kritisierte Popovac die fehlende Zusammenarbeit. Ihrer Meinung nach könnten die unterschiedlichen Seiten durch eine bessere Verständigung voneinander lernen: „Viele Politiker denken, sie brauchen nur mit Leuten reden, die dieselbe Meinung haben oder gleiche Werte teilen. Um Dinge zu ändern und etwas zu bewegen, muss man aber auch komplett andere Ansichten kennenlernen.“

 

Das junge Nachkriegsbosnien

 

„Wahren Frieden schaut man nicht in Regeln nach, man spürt ihn“, ist Samir Agic vom Education and Social Center (COD) überzeugt. Ein Jugendclub des COD in Jajce soll junge Leute aus verschiedenen Ethnien zusammenzubringen. Während Bastelnachmittagen oder Tischkickerturnieren können Kinder und Jugendlichen selbst erfahren, wie viele Unterschiede und wie viele Gemeinsamkeiten es gibt. Mit Erfolg: Erste Ängste miteinander zu spielen wurden vom gemeinsamen Spaß überwogen. 

 

Was diese Form der Versöhnungsarbeit erreichen soll: „Wir wollen mit den Jugendlichen aufarbeiten, woher Hass, Vorurteile und Misstrauen kommen“ – Erst ein gesellschaftlicher Frieden schaffe die Grundlage für ein gelingendes Miteinander in Zukunft, findet Agic. Seine Heimat Bosnien-Herzegowina sei ein warnendes Beispiel für die EU, „was passieren kann, wenn Populismus zum Hauptkonzept wird“. Die politische Zusammensetzung bestätige, was nach dem Krieg getrennt wurde.

 

Im Zuge des Kriegs gab es viel Flucht und Auswanderung. Noch immer verlassen qualifizierte junge Leute ihre Heimat mit Aussicht auf bessere Chancen im Ausland. „Brain Drain“, die sogenannte Talentflucht, ist das treffende Stichwort. „Umso mehr Anerkennung habe ich gegenüber denjenigen, die sich dafür entscheiden zu bleiben“, sagt Jovan Divjak von Education Builds Bosnia & Herzegovina. Die Organisation unterstützt Schüler und Studierende, die in ihrer Kindheit Opfer des Kriegs wurden.

 

Die Stipendiaten vor Ort waren sich einig, dass sie durch das Stipendium als Gemeinschaft lernten, einander unabhängig von Religion und Herkunft zu respektieren. Ferner nähmen sie sich nun selbst als Personen wahr, die mit den eigenen Begabungen ihre Heimat voranbringen und das Land verbessern können. „Manche von uns wollten Bosnien-Herzegowina verlassen, merkten dann aber: Die erste Person in deinem Dorf zu sein ist besser als die letzte in der Stadt“, erzählte ein Stipendiat. 

 

 

„Die EU ist Trägerin der Europäischen Idee“

 

Die Seminarwoche gab uns nicht nur einen Eindruck von den politischen Facetten des Landes: Die Abkühlung im Regen des Pliva-Wasserfalls in Jajce, der Aufstieg auf die Festung in Počitelj oder der Ausblick über Sarajevo vom Berg Trebević waren nur einige unserer Highlights in Bosnien-Herzegowina. Viele Ortschaften zeigten uns malerische Stadtbilder mit dem Anblick prachtvoller Moscheen und Kirchen vor Gebirgshorizont. Wir besuchten auch religiöse Stätten wie die Tekija, einem Derwisch-Kloster an der Buna-Quelle in Blagaj, oder die bunte Aladža-Moschee in Foča.

 

Die gemeinsame Reise gab den deutschen und bosnischen Teilnehmern zumal die Chance für den freundschaftlichen Austausch untereinander. Mit dem Geruch von bosnischem Kaffee in der Luft wurde nicht nur in den Pausen über die behandelten Themen diskutiert. Dabei stand nie die Frage im Raum, wer beispielsweise welcher Religion angehört. So bezog sich Sven Pertke, Leiter des KAS-Auslandsbüros in Sarajevo, auf Mostar: „Tagsüber gibt es Ost und West. Aber wenn die Menschen nachts feiern gehen, leiden alle unter derselben Hitze.“

 

Vor der Frage einer EU-Mitgliedschaft hat das Land wohl noch eine lange politische Agenda zu bewältigen. Auch in der Europäische Union mussten Nationen erst einmal zusammenwachsen, um auf Basis gemeinsamer Werte eine Einheit zu bilden. Mit den Worten von Heinz Becker, stehe diese Identitätsfindung erst am Anfang. Das ehemalige Mitglied des Europäischen Parlaments sieht in der EU kein fertiges Konstrukt, sondern einen Prozess. Er fasste zusammen: „Die EU ist die Trägerin der Europäischen Idee, aber sie hat sie noch nicht verwirklicht.“ 

 


Autorin: Janine Ponzer

 

 

Aus Gründen der Lesbarkeit wurde im Text die männliche Form gewählt, nichtsdestoweniger beziehen sich die Angaben auf Angehörige beider Geschlechter.