Welche Stadt ist für ihre radfahrenden Politiker bekannt? Kopenhagen vielleicht? London (nicht wahr, Herr Johnson) ? Diese sicherlich auch – aber in Riga ist die nationale Führungsriege so nahbar wie in selten einem europäischen Land. Am Unabhängigkeitstag des mittleren baltischen Staates sind Polizei und präsidialer Sicherheitsdienst vor allem damit befasst, dem interessierten Publikum einen Platz bei der öffentlichen Kranzniederlegung zuzuweisen und Passanten freundlich zu bitten, doch hinter dem Festzug die Straße zu überqueren. Keine Absperrungen, keine Betonblöcke.Ganz im Zeichen des lettischen Unabhängigkeitstages stand das Initiativseminar „Lettland auf einem besonderen Weg zur eigenen Identität?“, welches vier eifrige Konstipendiaten mit Hingabe und Liebe zum Detail organisiert hatten. Als Leitfrage drängte sich der zwanzigköpfigen Gruppe schnell das anscheinend sehr unterschiedliche Verhältnis von Deutschen und Letten zum Patriotismus auf, vor allem zum öffentlich zur Schau gestellten. Nicht allein Riga war in diesen Novembertagen geradezu universell beflaggt, auch ihre Bürger trugen mehrheitlich karminrot-weiß in den unterschiedlichsten Mustern in Schals und Strickmützen.
Mit den Perspektiven unterschiedlicher Referenten wurde das lettische Selbstverständnis versucht zu ergründen, wobei immer wieder die prägende Geschichte der drei Besatzungen zur Sprache kam (zweimal sowjetisch, einmal nationalsozialistisch), die von 1939–1990 anhielten. Da die Sowjetunion ihren Teilrepubliken eine nur sehr limitierte kulturelle Eigenständigkeit zugestand, verliehen und verleihen Letten ihrer Identität und Selbstständigkeit vor allem durch Gesang und Tanz Ausdruck, wie beim Liederfest, welches alljährlich Zehntausende Beteiligte anzieht. Besonders bemerkenswert ist hierbei auch die Mobilisierung von etwa zwei Millionen Esten, Letten und Litauern entlang eine durchgehenden Menschenkette, die als „Baltischer Weg“ im August 1989 weltweit Aufmerksamkeit erregte. Diese Erfahrungen von Besatzung und wiedererlangter Freiheit prägen das nationale Bewusstsein bis heute.
Für die Gegenwart von Bedeutung bleibt der sowjetisch geförderte Zuzug von russischen Muttersprachlern, die bis heute etwa 25% der lettischen Bevölkerung ausmachen, und vor allem in Riga, aber auch in regionalen Oberzentren wie Daugavpils deutlich präsent sind. Den Schutz dieser russischsprachigen Minderheit macht Russland immer wieder als Vorbehalt gegenüber Lettland deutlich. Ein Briefing des lettischen Verteidigungsministeriums ging aus diesem Grund auf die russische Mobilisierung zu Land, zu Wasser und in der Luft ein und schnitt auch die Maßnahmen an, die Lettland im Verbund mit der NATO ergriffen hat, um sich eines möglichen Angriffs zu erwehren. Vor diesem Hintergrund ergab sich im Nachgang eine sehr ausdifferenzierte Debatte über die Präsenz des Militärs an der Schule und die Ausrichtung von Sommerlagern für Jugendliche durch die Nationalgarde.
Es bestand auch Gelegenheit, Riga zu verlassen und sich in Cesis einerseits Landesgeschichte, andererseits Gegenwartskultur vor Augen zu führen. Seit dem Mittelalter verzeichnete Lettland einen kontinuierlichen deutschsprachigen Einfluss, durch Rigas Status als Hansestadt und die jahrhundertlange Präsenz der Deutschritter. Im Kontrast dazu hoben mehrere Referenten die späte Christianisierung Lettlands hervor und betonten, die lettische Identität sei bis heute von heidnischem Kulturgut wie dem Mittsommerfest geprägt. Beim Besuch eines örtlichen Kulturzentrums stellten sich sowohl Chancen als auch Herausforderungen der lokalen Kulturszene heraus sowie Besonderheiten der relativ kleinen aber doch für junge Letten attraktiven Stadt.
Autor: Jon Dannemann - Teilnehmer und Stipendiat in der Promotionsförderung
Bilder: Tobias Berger